Der Wecker klingelte um kurz nach vier. Verdammt, jetzt schon? Draußen war es noch recht dunkel, wenn auch nicht stockfinster.
Leise zog ich meine Fahrradklamotten an und schlich mich in die Küche. Ohne Frühstück geht bei mir gar nichts. Das Radio an (wie immer) und ich hörte noch die einschläfernden Töne einer Nachtsendung im Radio. (Sch… ist das früh; noch nicht mal Radio). Das Frühstück kann bei solchen Dauerbelastungen schon wichtig sein. Dickes Müsli oder Käse- und Wurstbrötchen sind überaus hinderlich, denn der Körper wird die Flüssigkeit hauptsächlich woanders brauchen und nicht zur Verdauung im Magen. Vor allem Ballaststoffe sind der Tod. Sonst eine tolle Sache, belegen sie dich aber bei einer solchen Belastung mit einem starken Völlegefühl und mindern die Leistungsfähigkeit drastisch, bis sie einigermaßen verdaut sind.
Aber ohne Essen geht es eben auch nicht. Marmelade oder Honig mit Weißbrot, Toast oder Brötchen sind genau richtig. Vielleicht soll man morgens keinen schwarzen Tee trinken, aber ohne kann ich nicht. Dazu eine Schale mit Cornflakes. Mehr geht nicht rein. Das Lampenfieber ist einfach zu groß. Hoffentlich klappt alles. Das einzige, was ich mir zur Feier des Tages doch noch gönne, ist ein Buttercroissant.
Der Zufall will es so, dass heute französischer Nationalfeiertag ist. Das ist jetzt nicht sonderlich wichtig, aber da gerade die Tour de France läuft muss ich mich daran erinnern und verspeise (eigentlich habe wirklich überhaupt gar keinen Hunger) ein Croissant.
Schnell sende ich noch das erste Video des Tages über Facebook. Reaktionen kommen zunächst keine, wieso auch, normale Menschen schlafen jetzt noch.
Es geht los!
--- Kilometer 0 – Senegal Fast-Food
Pünktlich um fünf sitze ich im Sattel und fahre los. Ruhig und entspannt. Es ist frisch und ich bin froh, dass ich eine Fahrradwind- und -regenjacke habe. Die Fahrradbrille wird mir noch ein nützlicher Begleiter sein, denn bei schnellerem Tempo ist man nicht mehr in der Lage, einer Fliege oder einem Mückenschwarm auszuweichen und dann sollten die Augen geschützt sein. Außerdem sind die Augen geschützt, wenn von einem vor mir fahrenden Fahrzeug ein kleines Steinchen von der Straße hochgeschleudert wird.
Ohne es zu merken fahre ich ziemlich zügig in den obersten drei Gängen. Große Anstrengung bedarf es dazu nicht, es läuft einfach. Noch immer ist mir etwas flau, aber wahrscheinlich war das Croissant doch ein bisschen viel. Aus den Kopfhörern meines Handys trällert „Senegal Fast-Food“ von Amadou und Manu Chao. Easy Going. …noch.
Die Reifen surren dahin und schon nach ein paar Kilometern kommt die erste Herausforderung: Mit dem Fahrrad durch Bad Segeberg. Eine Vollkatastrophe! Ja, es gibt den einen oder anderen Radweg. Aber wenn man einmal direkt durch die Stadt will, ist man aufgeschmissen, es sei denn man schiebt. Mein Navi will mich direkt über die Bundesstraße jagen, einmal durch, bis kurz vor den Beginn der A20. Noch habe ich genug Verstand und Kraft um abzulehnen und fahre anders.
Schon zweimal bin ich nach Lübeck und ich weiß, wie ich fahren will.
Ein kurzer Rundumblick…keiner ist zu sehen. Wieso auch, um diese Uhrzeit. Also fahre ich verbotener Weise durch die Fußgängerzone. Nur einmal muss ich einem Transporter ausweichen, der irgendeinen Laden bestückt. Und dann kommt ein erster Anstieg.
Wer Bad Segeberg kennt, der weiß, dass es den schönen Kalkberg gibt, wo sich alljährlich Winnetou die Ehre gibt. Dementsprechend steil ist auch der Anstieg der Oldesloer Straße. Und jetzt geht es hoch und runter. Schon jetzt fahre ich permanent auf der Straße, denn das ständige auf und ab bei Einfahrten oder Seitenstraßen geht mir unheimlich auf die Ketten, bevor es überhaupt richtig losgegangen ist. Ich habe halt keine Federung…
Hinter Segeberg beginnt endlich eine schöne Strecke, wenn nicht der schönste Abschnitt. Der Fahrradweg ist hervorragend asphaltiert und ich schnurre an Feldern und Buschreihen vorbei, genieße den Sonnenaufgang (noch kann ich das) und weiß, dass dieses Teilstück nach Lübeck schnell ist.
Mit dem Wetter habe ich verdammtes Glück. Es wird den ganzen Tag über nicht einmal regnen. Am Nachmittag soll es in Wahlstedt und Umgebung tröpfeln, aber da bin ich schon viiiieeel weiter. (grins).
--- Kilometer 37
Als ich in Lübeck ankomme, hat der Berufsverkehr gerade eingesetzt. Am Holstentor mache ich ein Beweisfoto und quäle mich durch die Stadt. Das wird auf der gesamten Tour die größte Hölle werden, diese Quälerei durch die Städte. Ampeln, Ausfahrten, Verkehr, keine Radwege, Radwege, die schlechter sind als Fußwege usw. Da ich weiß, dass die Fahrten durch Ortschaften und Städte zeitraubend sind, will ich möglichst an ihnen vorbei und die kürzeste Stecke fahren. Kein Problem mit einem Fahrrad…denke ich. Das wird sich noch als wahre Spaßbremse herausstellen und ich werde bitter lernen müssen.
Hinter Lübeck beginnt Mecklenburg-Vorpommern. Der Übergang ist verwischt und ich erkenne zunächst nur an manchen Gartenzäunen, dass ich Schleswig-Holstein verlassen habe. Aber auch jetzt sind die Radwege sehr gut. Rechts von mir die Landstraße und ich tauche langsam ein in eine Gegend, die von Jahr zu Jahr dünner besiedelt wird.
Irgendwo verhaspel ich mich in einem kleinen Dorf. Finde aber schnell wieder auf den wahren Weg zurück. Mir wird zum ersten Mal deutlich, dass ein Navi zwar gut und schön ist, aber manchmal auch nicht so präzise arbeitet, als dass man sich bedingungslos darauf verlassen könnte.
Die erste 0,7er Flasche ist alle. Ich fülle nach und steige nun auf Isostar um. Ich habe ein bisschen die Befürchtung, dass mich die Süße noch durstiger macht, was aber nicht der Fall ist. Der erste Powerbar ist auch schon vernascht.
Der eine oder andere wird denken, dass man ja nicht so früh schon etwas essen sollte. Die Tour ist schließlich noch lang. Ich weiß aber vom Marathon, dass es besser ist, den Körper kontinuierlich mit Energie zu versorgen. Außerdem haben die Powerbars auch mehrere Elektrolyte an Bord.
Ich nutze den kurzen Halt um meine Brillengläser zu wechseln. Die Sonne ist nun schon recht hoch und scheint mir direkt ins Gesicht. Also schnell die farblosen Gläser raus und die getönten rein. Außerdem hole ich noch Sonnencreme raus. Leider habe ich vergessen, mich vor der Fahrt einzucremen, zumindest an Nase, Ohren, Unterarmen und Unterschenkeln. Jetzt muss ich erstmal zusehen, wie ich den Schweiß wegwische, damit die Sonnencreme wenigstens einigermaßen hält. Ohnehin sehe ich schon durch das Training wie ein klassischer Radfahrer aus: braune (Unter)Arme, braune Unterschenkel, braunes Gesicht mit braunem Hals und der Rest käsig. NATO-Bräune eben.
Ich habe einen Brei aus Schweiß, Salz und Sonnencreme auf meinen Extremitäten verteilt und eile weiter. Ich merke, dass ich schon einige Kilometer hinter mir habe, bin aber noch voll bei der Sache.
Kurz vor Schwerin halte ich an einem ersten Supermarkt. Zack, rein, zwei 0,5 Liter Flaschen stilles Wasser geholt, meine Reserven wieder aufgefüllt und wieder rein, um den Pfand nicht zu verschwenden. Manchmal bin ich eben ein Geizkragen.
Die Kassiererin guckt etwas komisch, sagt aber nichts. Vielleicht sehe ich etwas geschafft aus?