Kilometer 256

--- Kilometer 256

 

Das Navi geht wieder, ich überquere erneut die A24 und komme nach ewig langer Fahrt endlich nach Neuruppin. Mein letztes Zwischenziel. Es ist mittlerweile halb neun. Ein paar Straßencafés und Restaurants der wirklich zauberhaften Innenstadt Neuruppins, der Fontane-Stadt, haben noch offen. Wenn ich Zeit gehabt hätte, wäre ich hier hängengeblieben. Es ist wirklich schön hier.

Meine Zunge ist schon trocken, ich habe immer noch keinen Supermarkt gefunden und es ist schon nach acht (!!!) Uhr abends.

Ich gönne mir trotzdem eine kurze Pause. Die Abstände zwischen den Pausen werden spürbar kürzer. Mein Körper und vor allem meine Beine wollen Ruhe haben. Die Körner schwinden.

 

In meiner Veranstaltung auf Facebook bietet mir ein guter Bekannter an, mich in Neuruppin abzuholen, es wäre jetzt genug. Aber das wäre für mich so, als wenn ich bei hundert Zäunen, die es zu überwinden gelte, nach dem 99. Zaun aufgeben würde.

 

Ich zwinge mich wieder aufs Rad und suche mir meinen Weg durch Neuruppin, was nicht schwer ist. Die Wege sind gut und ich merke, dass es sich hier wirklich gut leben lässt. Eine wirklich schöne Stadt.
Und endlich sehe ich in der Ferne das Aldi-Schild. Ich habe Glück, der Laden hat bis 21 Uhr geöffnet. Es ist 20 Uhr 50…

Das Fahrrad angeschlossen und schnell rein. Schnell ist mittlerweile relativ zu verstehen, denn ich wanke eher und torkele wohl dahin, als wenn ich über ein Pferd gebügelt wurde.

Da meine Isostarvorräte schon lange aufgebraucht sind (verdammt ich hätte die ganze Pulverpackung mitnehmen sollen), schnappe ich mir zwei kleine 0,5 l Flaschen mit dem Aldi-Isostar. Leider gibt es das nur in light. Ausgerechnet dann, wenn man sie braucht, sind keine Kalorien da!

Ich kann nicht wiederstehen und hole noch ein paar Chips. Der Mineralienbedarf ist mittlerweile sehr groß. Ich merke, wie meine Leistungsfähigkeit rapide absinkt, weil ich sämtliche Salze wohl schon ausgeschwitzt habe. Diese Speicher müssen nun schnell gefüllt werden, sonst drohen mir noch Krämpfe.

Eine Flasche leere ich sofort und merke, dass das Zeug mit Kohlensäure ist.

 

Kohlensäure kann bei solchen Belastungen, die auch am Magen-Darm-Trakt nicht spurlos vorüber gehen, echt zu einem Problem werden. Aber was soll ich machen? Ich brauche jetzt Mineralien! Ich merke auf den folgenden Kilometern auch sofort die Wirkung der Kohlensäure: ständiges Aufstoßen und in meinem Magen rumort es wie ein Hund mit Albträumen. Die Kohlensäure bekommt meinem Bauch gar nicht. Aber zum Glück lasse ich mir die Sache nicht noch einmal durch den Kopf gehen… Zum Erbrechen kann bei solchen Belastungen durchaus vorkommen.

 

Seit einiger Zeit habe ich keine Lust mehr. Ich will echt nicht mehr. Beim Marathon würde man sagen, dass der Mann mit dem Hammer da ist.

 

Das ist ein Zeitpunkt, an dem es ganz wesentlich auf die Willenskraft ankommt. Man kann nicht mehr, man ist müde und erschöpft. Physisch geht da noch so einiges. Aber man muss im Kopf einfach auf stur schalten. Bei meinem ersten Marathon kam der Mann mit dem Hammer bei Kilometer 40, also gut 2 Kilometer vor dem Ziel. Ich hatte überhaupt keinen Bock mehr und wollte tatsächlich 2 Kilometer vor dem Ziel in die U-Bahn steigen und ins Ziel fahren…
 

So langsam setzt jetzt die Dunkelheit ein, ein Umstand dem ich eigentlich durch den Start um fünf Uhr morgens aus dem Weg gehen wollte. Zum Glück habe ich meine Fahrradbeleuchtung dabei. Ich sitze jetzt seit gut 16 Stunden im Sattel, abzüglich von ein paar Pausen von insgesamt vielleicht einer Stunde.
Ich bin wieder irgendwo im brandenburger Nirgendwo zwischen Neuruppin und Kremmen. Das Treffen um 21 Uhr in Kremmen habe ich längst abgesagt. Ich ärgere mich auch, dass ich nicht vor der Dunkelheit in Berlin bin. Das Navi spinnt wieder und will mich mitten aufs Feld lotsen. Diesmal verlasse ich mich mehr auf meinen Instinkt.

 

Ich fahre auf einer Möchtegernstraße mit Kopfsteinpflaster von 1850. Die Erschütterungen sind so massiv, dass ich zeitweise absteigen muss und schiebe. Die Sonne ist im Westen verschwunden und ich entschließe mich, hier auf freiem Feld die Fahrradbeleuchtung aufzustecken. Eine fatale Entscheidung.
Es ist nicht so, dass ich alles neu anschrauben muss. Vielmehr geht es nur darum, die Lichter aufzuschieben und dann die Lampen anzuknipsen. Aber ich muss die Lichter erst noch aus der Tasche kramen. Darauf haben die Mücken nur so gewartet.

 

Rings um mich herum sind die Wiesen mit Wasser geflutet, wahrscheinlich ein Relikt der starken Regenfälle der letzten Wochen. Wie die Irren stürzen sich die lästigen Biester auf mich. Zum Glück habe ich schon seit Neuruppin wieder meine Wind- und Regenjacke an, aber meine nackten Beine, Hände und mein Nacken bieten optimale Angriffsflächen. Dazu noch schön mit Salz gespickt… ein Festessen.

 

Zunächst merke ich noch, wie es um mich herum vor lauter Fröschen quakt und zetert. Nun weiß ich auch warum. Von weitem sehe ich wahrscheinlich wie ein Irrer aus, der einen wilden Tanz aufführt. Es schwirrt und wimmelt nur so um mich herum und ich beginne voller Hektik das Licht anzuknipsen. Dann renn ich mit dem Fahrrad auf dem Sandweg neben dem Kopfsteinpflaster weiter, denn fahren ist ja hier nicht drin. Nur weg aus dieser Hölle!

Immer wieder komme ich auch durch knöcheltiefe Matschpfützen, die ich ebenfalls durchlaufen muss, weil es so einfach schneller geht, als mit dem Fahrrad.

Hier ist die Zeit seit Jahrhunderten stehengeblieben. Die „Straße“ liegt so vor sich hin, in den Wiesen und Äckern bildet sich der Morast und das wahrlich besungene „Sumpf und Wald“ der brandenburger Hymne erobert sich langsam die Landschaft wieder zurück.

 

Endlich wieder Asphalt. Rauf auf die Kiste und es geht weiter. Es ist dunkel geworden und meine Fahrradlampe macht einen hervorragenden Job. Das Navi arbeitet auch wieder, der Akku reicht auch noch. Immer wieder mache ich Pausen. Die letzten Körnchen sind alle. Da geht nicht mehr viel. Trotzdem strampel ich stoisch weiter, stumpf und stur. Den MP3-Player im Telefon habe ich längst ausgeschaltet. Ich kann das Geplärre nicht mehr hören.
Mittlerweile ist es 22 Uhr und komplett dunkel. Ich komme noch über eine Verbindungsstraße von vor 1989: aneinander gereihte Betonplatten, mit Bitumen zusammengeklebt.

Durch die Jahre und die sommerliche Wärme ist der Bitumen verflossen und es offenbaren sich die typischen Bodenwellen der Vorwende-Transitstrecken: dumdumm, dumdumm, dumdumm,… Die Wellen schlagen mir bis in den Kopf und ich könnte vor Wut und Frust mein Scheißfahrrad in den nächsten Graben schmeißen und laut schreien. F… ist das eine Piste. Grrrrr.

Die Autos ballern mit einer solchen Geschwindigkeit über diese Plattenbahn, dass ich echt Angst um die nicht mir gehörenden Fahrzeuge habe.

 

Einige Kilometer weiter kommt wieder ein guter Radweg. Asphaltiert, wenig Hügel, einfach geradeaus. Vermute ich zumindest, denn es ist stockdunkel und ich sehe nur so weit, wie mein Scheinwerfer geht.

 

Und dann passiert es beinahe. Von vorne kommt ein Fahrzeug mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Fernlicht. Das ist ein beschissener Augenblick, denn ich kann nur den Kopf senken. Ich könnte auch stehen bleiben, aber man weiß bei der Dunkelheit nicht, wo man landet, denn man ist auch ein gutes Stück durch das Licht geblendet. Ich verstehe in diesen Augenblicken die Wildtiere, die einfach stumpf auf der Fahrbahn stehen bleiben.

Ich werde langsamer und fahre vorsichtig an den erahnten rechten Rand des Radweges. Und plötzlich rast das grelle Licht knapp links an mir vorbei und ich merke noch ein Streifen an meiner Jacke. Ich gehe in die Eisen und mache mir bewusst, dass es kein Auto, sondern ein Radfahrer war, der sein Frontlicht so weit hochgezogen hatte, dass er mir direkt ins Gesicht leuchten musste.

 

Ich bin stinksauer, denn beinahe wären unsere Lenker aneinandergestoßen und wir hätten eine tolle Sonne gedreht. Zur Bocklosigkeit über das Fahrradfahren kommt nun noch grenzenloser Zorn ob solcher hirnverbrannten Fahrradfahrer auf.

 

Immer wieder mache ich Pausen. Ich tracke schnell wo ich bin und vor allem, wie viel ich noch vor mir habe. Es scheint sich elendig hinzuziehen. Jeder Kilometer ist wie Kaugummi und es nimmt kein Ende. Powerbars habe ich schon lange nicht mehr. Toll, denke ich, zu Hause liegen noch über zehn Stück. Die restlichen Chips müssen herhalten.

Meine Muskeln und Bänder in den Fußgelenken sind auch schon übermüdet. Beim Fahren schlackern die Füße vor und zurück, wenn ich nicht ordentlich anspanne.

 

Mein rechter Fuß ist nun komplett taub, aber da muss er jetzt durch. Bei einer Pause lege ich mich erschöpft auf den Asphalt des Radweges. Eigentlich irre, denn wenn jetzt ein durchgebrannter Radfahrer wie vorhin daherrauscht, kann er unmöglich bremsen und muss mich zu Brei fahren. Aber das ist mir gerade fast egal.

Das Licht am Fahrrad lasse ich an. Aber ich kann mich nicht ins Gras am Rand legen denn der Abendtau hat alles nass gemacht. Gegen Kälte kann man sich schützen, gegen Nässe nicht. Die kriecht ekelhaft durch die Kleidung und kühlt den Körper ratzfatz aus.

 

Wie ich so auf dem Asphalt liege merke ich, dass es eigentlich ganz angenehm ist. Gemütlich auf dem Asphalt! So etwas denkt man wohl nur bei solchem Wahnsinn. Der Akku ist leer. Ich kann nicht mehr. Sch…, denke ich, keine Körnchen mehr versteckt. Ich könnte jetzt direkt ein Nickerchen machen. Kalt ist es auch nicht. Mein Körper ist noch so erhitzt, dass das kein Problem wäre. Zum Glück lese ich die tollen Motivationssprüche der stillen Begleiter auf Facebook. Ich muss mich zwar sehr quälen, um wieder hochzukommen. Aber die Anfeuerungen helfen ungemein. Neben der Erschöpfung fehlt eben einfach die Kraft. Krämpfe sind es nicht, die habe ich überhaupt nicht (toitoitoi). Aber die Akkus sind komplett leer. Da ist wirklich nichts mehr drin. Ich funktioniere einfach nur noch. Ich denke nicht mehr nach, ich trudel einfach stumpf dahin, der Kopf ist leer. Man denkt an nichts mehr, es geht einfach nur weiter…

 

„Allein, Allein“ – Polarkreis 18.

 

 

--- Kilometer 277

 

Endlich habe ich Kremmen hinter mir und plötzlich kommt wieder Power in die Sache. Hennigsdorf steht schon dran. Hier kenn ich mich aus. My Home is my Castle.

Meine Beine reagieren sofort. Es ist fast wie bei einer Kuh, die Stalldrang hat. Es ist erstaunlich, was für eine Energie ein nahes Ziel vor Augen haben kann. Das Navi sagt: noch neun Kilometer. Die Maschine rollt wieder. Der Wolf surrt wieder auf der Panzerringstraße.

 

An einer Kreuzung erhasche ich einen kurzen Blick auf den Hinweis eines Radwanderwegs: Hennigsdorf 20 km. Ich falle beinahe vom Fahrrad vor Entsetzen, fahre aber stumpf weiter. Das kann doch unmöglich sein. Später vermute ich, dass es wahrscheinlich irgendein „Guck-die-schöne-Landschaft“-Radwanderweg ist, der nicht den kürzesten Weg zum Ziel wählen möchte.

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